20 Jahre praktizierte Studienreform in Oberjoch
Eine Universität und ihre Berghütte

"So sollte Uni immer sein!" - Diesen studentischen Stoßseufzer liest man im Gästebuch des Berghauses Iseler in Oberjoch, seit 1976 Studienhaus der Universität Tübingen, niedergeschrieben irgendwann zu Beginn der 90er Jahre. Wie ist das zu verstehen? In Oberjoch erst würde die Universität so, wie die Studierenden sie sich vorstellen? Für Insider reicht die Nennung des Namens, um ins Schwärmen zu kommen. Wer nie dort war, dem ist das Faszinosum Oberjoch schwer zu vermitteln, wobei "Oberjoch" im Unijargon nicht für den Ort im Allgäu steht, sondern Kürzel für das Berghaus Iseler ist.

Versuchen wir, mit einigen Impressionen dem Phänomen näherzukommen. Oberjoch, das ist eine Atmosphäre von Gemeinschaft, wo auf anstrengende Tage mit Geländearbeit, Studienbetrieb und Bergwanderung lange Abende voll mit Diskussionen, intensiven Gesprächen, Spiel und Gesang und ganz kurze Nächte folgen. Und jede(r) ist doch eifrigst bemüht, am nächsten Tag wieder fit zu sein, um den nächsten anstrengenden Tag, den nächsten langen Abend und die nächste noch kürzere Nacht wieder durchzustehen: kurze Nächte in winzigen Zimmern oder gar im Lager droben, wo die Abende manchmal gar nicht enden wollen. Oberjoch ist eine Jugendherberge für Erwachsene jeglichen Alters, alpine Hüttenatmosphäre für verkopfte Flachlandtiroler. Oberjoch ist, wo jeder satt wird. Zu Oberjoch gehört auch die Terrasse in der Nachmittags- und Abendsonne, der Blick auf die Berge gegenüber, das sich Einleben in Berglandschaft ohne das Gefühl, Tourist zu sein. Oberjoch ist ein Pflanzenparadies, ein Bergtourenparadies, eine der besten Möglichkeiten, Leben in den Alpen auch in historischen Dimensionen verstehen zu lernen. Oberjoch ist für jeden etwas anderes, auf jeden Fall aber die Chance, aus dem universitären (und privaten) Alltag auszubrechen.

Die Pächter und ihre große Familie

Oberjoch 1996, 20jähriges Jubiläum, das festlich begangen wurde. Wer wurde gefeiert: das Haus, die Universität, die Leute, die die gute Idee hatten? Die Spender, ohne die diese Idee nie hätte verwirklicht werden können? Nein, geehrt wurden die Garanten für die Erfolgsstory, die Pächter seit der ersten Stunde, das Ehepaar Roswitha und Günther Egger. Etwa 40 Personen, die mit dem Haus am engsten verbunden sind, waren am 28. Juni 1996 gekommen, um den Eggers zu gratulieren. Seit 20 Jahren unermüdlich ohne Ruhetag (bis auf wenige Urlaubswochen) tätig, mußten sie freilich auch am Jubiläumstag wieder für alles sorgen, so auch für das Menü des Grillabends auf der Terrasse: Fischcremesuppe, Grillfleisch aller Art, Folienkartoffeln und Salatbeilage, Obstsalat. Wen auch immer man fragt, was den Erfolg des Berghauses ausmacht, die Eggers werden genannt als Gewähr für das gute und reichliche Essen, für die persönliche Betreuung, dafür, daß alles klappt, als Helfer in allen Problemen, die in einem solchen Haus unweigerlich auftauchen. Für Altpräsident Adolf Theis sind die Eggers die "idealen Herbergseltern", denn "mit den Pächtern steht und fällt die ganze Idee Oberjoch". Am Jubiläumstag konnte sich die Universität in bescheidenem Maße dafür erkenntlich zeigen durch die Verleihung der Universitätsmedaille und einen Scheck über 10.000 DM, den die Eggers nach eigenem Gutdünken für die Verschönerung des Berghauses einsetzen können.

Fragt man Familie Egger nach ihrem Erfolgsrezept, kommt die Antwort schnell: "Wir locken mit dem Essen. Und daß man sich wie in einer großen Familie fühlt und nicht wie im Hotel, wiegt die Nachteile der kleinen Zimmer und der Etagendusche auf." Intern bewährt hat sich die klare Arbeitsteilung: Günther Egger kocht, und Roswitha erledigt die gesamte Organisation. Viele Jahre haben sie das ganz allein gemeistert, dann gab es hin und wieder eine Praktikantin, inzwischen wohnt eine Hilfe mit im Haus.

Pilzkurse und physikalische Meetings

Wer sind die typischen Nutzer? Seit Anfang an sind die Botaniker dabei. Schon lange hatten sie einen geeigneten Standort gesucht, wo die Pflanzen an ihrem natürlichen Standort kennengelernt und gesammelt und anschließend in einem Seminarraum unter dem Mikroskop und mit dem Bestimmungsbuch nachbearbeitet werden können. Prof. Franz Oberwinkler schwärmt von Oberjoch als idealem Ausgangspunkt, von wo aus eine Vielfalt an Standorten von dem 850 Meter hoch gelegenen Hindelang bis hinauf zum Gipfel des Bschießer mit über 2000 Metern auf engstem Raum studiert werden können: Nord- und Südhänge, Hochmoor und Schotterflur - alles wird geboten. Die ökologische Betrachtung und nicht die reine Artenkenntnis steht dabei im Vordergrund des botanischen Interesses: Pflanzen werden in ihrer "Vergesellschaftung" betrachtet. Die Wiese hinter dem Berghaus gehört auch der Universität und kann damit nach Belieben zu Studienzwecken genutzt werden. Seit Bestehen des Studienhauses waren die Botaniker über 70mal zu Kursen in Oberjoch, Prof. Oberwinkler selbst hat etwa 50 davon durchgeführt. Tradition hat der Bestimmungskurs nach dem Ende jedes Sommersemesters für Studierende im Grundstudium und der Pilzkurs Ende September für Spezialisten und Doktoranden.

Das gleiche professionelle Interesse an der Landschaft führte auch die Geographen nach Oberjoch, wobei schon bald die Idee entstand, einen Führer für die Gäste des Berghauses Iseler, aber auch zur allgemeinen touristischen Verwendung zu verfassen. Aus Lehrveranstaltungen, Geländepraktika, Kartierungskursen, Recherchen zu Landwirtschaft, Geländeformen und Tourismus heraus trugen Axel Borsdorf und Helmut Eck das Material für das Büchlein zusammen: "Hindelang, Oberjoch. Wandern rund um den Jochpaß", das mit geographischen Hintergrundinformationen "die Augen öffnen soll für das Verständnis der Landschaft. Am Beispiel leichter Wanderungen soll auch dem Laien deutlich werden, wie sich das Landschaftsmosaik zusammensetzt, welche Informationen aus jedem Mosaiksteinchen gewonnen werden können." Die Mosaiksteinchen kommen aus der Erdgeschichte und Geologie, aus Meteorologie, Botanik, Verkehrsgeographie, aus Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte, aus der Geschichte der Landwirtschaft und des Tourismus. Eine aktualisierte Neuauflage wird im Spätherbst erscheinen.

Auch die Wirtschaftswissenschaftler haben Oberjoch fest in ihr Lehrprogramm integriert: eine ganze Reihe von Lehrstühlen nützt das Haus für Kompaktveranstaltungen. Regelrecht Stammkunde ist Prof. Josef Molsberger, der schon auf das 10jährige Jubiläum seiner Hauptseminare zur "europäischen Integration" zurückblicken kann. Gefördert von der Europäischen Akademie Bayern führt er die Seminare gemeinsam mit einem Bayreuther Kollegen für fränkische und schwäbische Studierende durch. Immer abwechselnd werden die Hauptseminararbeiten vorgestellt, das erzeugt Wettbewerbsgeist zwischen den Gruppen, gleichzeitig wachsen die beiden Gruppen aber auch durch die gemeinsamen Abende und eine traditionelle Wanderung zusammen. Molsberger hat beobachtet, daß die Teilnehmer durch die ungezwungene Atmosphäre stärker aus sich herausgehen als an der Universität, daß die Diskussionen lebhafter sind.

Unter Physikern, die sich mit den Materieteilchen Pionen und Mesonen beschäftigen, ist der Name Oberjoch weltweit bekannt: Alle zwei Jahre findet hier eine hochkarätige wissenschaftliche Tagung statt, die von den Tübinger Experimentalphysikern Prof. Gerhard Wagner und Prof. Wolfgang Clement organisiert wird. Nicht mehr als 30 Wissenschaftler werden hierzu jeweils eingeladen, die Experten kommen aus mehreren Kontinenten. Diese Tagung wird regelmäßig von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt. Wagner schätzt besonders die konzentrierten und ausführlichen Diskussionen in kleinem Kreis gegenüber den anonymen Massenkonferenzen. Zahlreiche Ideen für neue gemeinsame Projekte sind hier z. T. auch auf Wanderungen entstanden (ein Erfolg dieser Bemühungen ist in der Rubrik "Forschung" nachzulesen). Ein zusätzliches geistiges Produkt der Tagung läßt sich immer wieder auch im Gästebuch nachlesen: spritzige Limericks über Oberjocherlebnisse.

Skikurse und Bergtouren

So ließe sich noch seitenweise fortfahren, von unermüdlich das Gelände durchstreifenden Geologen aus Tübingen, Köln oder Münster berichten - denn auch Mitglieder befreundeter Universitäten können Oberjoch nutzen. Meist haben die heutigen Dozenten einmal in Tübingen promoviert und sind seither dem Berghaus Iseler verfallen, denn auch die geologische Vielfalt ist in der Umgebung so groß wie kaum anderswo. Von den Sportlern müßte man reden: Skikurse, ob alpin, auf Touren- oder Langlaufski, für Sportstudierende, Studierende im Hochschulsport, Mitarbeiter und deren Familien bieten sie an. Philosophen, Politikwissenschaftler, Koreanisten waren schon hier - kaum ein geisteswissenschaftliches Fach, das nicht vertreten ist. Ausländische Studienanfänger, die auf ihre Sprachaufnahmeprüfung vorbereitet werden, Gruppen aus Warschau oder Oregon verleihen dem Haus ein internationales Flair.

Zwischen die Teilnehmer an Lehrveranstaltungen mischen sich ständig kleine bis kleinste Gruppen von Mitarbeitern der Universität oder Mitglieder des Universitätsbundes, die privat hier ein paar Tage oder länger Urlaub machen und sich in der "Pension Egger" verwöhnen lassen. Ausflugsziele gibt es genug für die Urlauber: den Weg über den Hausberg Iseler und bewirtschaftete Almen ins Hintersteiner Tal, entlang der alten bis auf römische Zeit zurückgehenden Paßwege nach Hindelang und zurück, die Grasgipfel auf der gegenüberliegenden Seite mit Einkehr auf der Hirschalpe, zahlreiche Touren im Tannheimer Tal, z. B. am Vilsalpsee oder einfach nur das Schlendern von Hinterstein zum Giebelhaus etc. Submontan oder hochalpin - für jedes Wetter und alle Fähigkeiten und Kräfte ist etwas dabei.

Naturfreundehaus oder neue Gesprächskultur?

Abschließend die Frage nach den Anfängen: Wie ist es zum Studienhaus in Oberjoch überhaupt gekommen? Sie ist erneut Adolf Theis zu stellen. Er wollte Mitte der 70er Jahre, als der Dialog zwischen Professoren und Studierenden sehr erschwert, fast nicht mehr möglich war, eine "neue Gesprächsebene" schaffen, einen Ort finden, um die Sprachlosigkeit an der Massenuniversität aufzubrechen. Ihm war klar, daß man dafür "die Räume in der Universität hinter sich lassen", sich weit genug von Tübingen in landschaftliche Abgeschiedenheit wegbegeben mußte, um keinen Rückweg in die abendliche Vereinzelung zu ermöglichen. Da kam die Kunde gerade recht, daß der Landessportbund Württemberg sein heruntergekommenes Berghaus in Oberjoch verkaufen wollte. Der Vorsitzende des Landessportbundes und ehemaliger Oberbürgermeister von Tübingen Hans Gmelin hat bei der Vermittlung entscheidend geholfen, so daß man sich bald einig wurde. Blieb das Problem der Finanzierung, denn staatliche Mittel gab es für so ein Unterfangen nicht. Mit dem Kaufpreis von 375.000 DM war es nicht getan, ein Um- und Ausbau in mehreren Bauabschnitten erwies sich als notwendig, statt einer halben Million wurden es schließlich mehrere Millionen DM. Rund um das Universitätsjubiläum begründete Adolf Theis seinen Ruf als "Bettelkünstler": Es gelang ihm, alle nötigen Gelder von den Spendern einzuwerben. Eine Tafel im Berghaus Iseler verewigt deren Namen. Die Idee eines Studienhauses hatte der Wirtschaft spontan eingeleuchtet. Freilich wurde das Projekt Oberjoch, das so gar nicht dem Zeitgeist entsprach, auch spöttisch belächelt als "Rückkehr zu den Naturfreunden der Jahrhundertwende. Aber die jungen Menschen haben das Studienhaus angenommen", kann Theis heute mit Stolz sagen. Auch die Pächter hören das immer wieder: "Die Studenten erzählen uns, daß sie in drei Tagen Oberjoch mehr begriffen haben als in drei Wochen Tübingen". Die immer wieder auch von der Politik eingeforderte Reform des Studiums, in Oberjoch wird sie seit 20 Jahren praktiziert - zwar nur in einem Ausschnitt der Universität, aber mit Erfolg. Das läßt sich auch vom privaten Besucher leicht beobachten, wenn sich abends geologische und biologische Gruppen mischen und ihr Wissen austauschen, wenn der Geologe den Kursleitern aus der Pharmazeutischen Biologie Nachhilfe in den Grundlagen der Geländeformationen erteilt und dabei sein botanisches Wissen erweitert, wenn die Diskussionen in kleinen Kreisen das fachliche Detail weit hinter sich lassen.

Daß die Universität nicht nur aus Professoren und Studierenden besteht, auch das macht Oberjoch deutlich: Nicht nur daß alle Mitarbeiter hier Urlaub machen können, ohne ein paar ganz besonders tüchtige Mitarbeiter wäre das Berghaus auch gar nicht finanzierbar (und zu erhalten) gewesen. Beim Um- und Ausbau und bei späteren Renovierungsarbeiten wurde ein enormer Anteil von den Hausmeistern und Handwerkern der Universität selbst bestritten, die zusammengerechnet Monate ihres Lebens in Oberjoch verbracht haben.

Michael Seifert

Alpenflora für jedermann

Kennen Sie den stinkenden Hainsalat, die glänzende Scabiose, das echte Alpenglöckchen, die kopfige Teufelskralle oder die Perücken- Flockenblume? Können Sie verschiedene Farnarten unterscheiden? Im botanischen Lehrpfad der Universität Tübingen Oberjoch läßt sich das alles und noch viel mehr kennenlernen. Seit 1978 gibt es ihn als Angebot an die Allgemeinheit. Das Botanische Institut und die Gärtner des Botanischen Gartens haben hinter dem Haus diesen Lehrpfad geschaffen, auf dem kleine Hinweisschildchen auf eine Fülle verschiedener Pflanzenarten hinweisen. Bergmischwald, ungedüngte Wiesen mit Feucht- und Trockenbiotopen, alpine Hochstauden verleihen dem Areal eine Artenfülle, die der Laie kaum bewältigen kann: Talflora und subalpine Pflanzen treffen sich hier, die einen sind den Hang heraufgekommen, die anderen haben sich von oben herab vermehrt. Im Hochsommer dominiert der gelbe Enzian die ganze Wiese. Ein Mustersteingarten rund um das Berghaus rundet die Einladung zum botanischen Selbststudium ab. Der Pfad bedarf ständiger Pflege durch die Gärtner des Botanischen Gartens: Im Frühjahr müssen die Schildchen immer wieder neu zugeordnet werden, im Herbst wird die Wiese in mehrtägiger Arbeit gemäht und das Heu weggeschafft.

Michael Seifert

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